Das erste der Trois Morceaux op.52, „Poème”, schließt sich inhaltlich dem ersten Poème aus op.32 an, nur sind die rhythmischen und harmonischen Mittel noch dichter und differenzierter: Die Harmonik hat sich weitgehend von Dur-Molltonalen Bindungen gelöst (Die Haupttonart C-Dur tritt lediglich als Schlussakkord in Erscheinung) und umkreist orgelpunktartige tonale Zentren; die rhythmisch-melodische Struktur ist entscheidend von dem Auffluggestus einer kleinen Motivzelle und ihrem träumerischen Aufschweben geprägt. Ihr folgt ein Abschnitt kreisender chromatischer Terzengänge, die den Zustand matter und sehnsüchtiger Empfindung beschreiben (avec langeur).
Die motivische Verknüpfung dieser „Mikro-Charaktere” ist äußerst subtil und in ständig wechselnde, einander überschneidende metrische Komplexe ein gebunden. So entsteht eine neue Form musikalischer Poetik in Gestalt freier Rhythmen in unregelmäßiger Metrik. Auch hier (wie im ersten Poème op.32) schließt sich nach mehrmaligen kurzen Aufschwüngen eine spielerisch tänzerische Episode an, die sanften, abwärts gleitenden Flügelschlägen gleicht. Das zweite Stück mit der Überschrift „Enigme” ist eine flüchtige, schwerelos wirkende Miniatur, deren Rätselcharakter sich in scheinbarer Ziellosigkeit, in flatterhaftem Umherschwirren mitteilt. Die Flugbewegungen tauchen zwischendurch in lichte Klangräume ein, jäh unterbrochen von einer stürmischen Sequenz, die alles wie in einem Sog von unten nach oben reißt. Diese Musik, deren letzte Takte schattenhaft vorüber huschen, schließt nicht, sie entzieht sich, entschwindet.
Die Anfangstakte des dritten Stückes op.52, „Poème languide”, wirken in ihrer Sehnsuchtsmotivik wie ein ferner Reflex des berühmten Tristanakkordes, doch Skrjabin entwickelt daraus einen Spannungsbogen, der die Musik von lähmender Schwere befreit und zu vollkommener Gelöstheit führt. Der Klangraum erweitert sich dabei bis zu einem Umfang von mehr als sechs Oktaven. (Der Aufbau dieses Poème ist - im Gegensatz zum ersten Stück - entsprechend seiner finalen Entwicklung in periodische Regelmäßigkeit von 3x4 Takten gegliedert.)
Der 5. Klaviersonate op. 53 stellte Skrjabin ein Motto voran, das er seiner zuvor veröffentlichten Dichtung „Le Poème de l'Extase” entnahm und das diese Sonate als ein groß angelegtes Poème offenbart:
„Ich rufe euch zum Leben o geheimnisvolle Kräfte! Versunken in dunklen Tiefen des Schöpfergeistes, Ihr ängstlichen Schatten des Lebens, Euch bringe ich Mut!”
Die Sonate ist einsätzig und besteht aus einem umfangreichen Sonatenhauptsatz, dessen formale Gliederung in Introduktion, Exposition, Durchführung, Reprise und Coda mit Hilfe eines poetischen Programms erfolgt, das die musikalischen Zusammenhänge mittels inhaltlich miteinander korrespondierender charakteristischer Abschnitte herstellt. Die wichtigsten dieser Charaktere und ihre Funktion im Ablauf des Sonatensatzes seien anhand von Vortragsbezeichnungen und Selbstzeugnissen Skrjabins wie folgt beschrieben:
„Allegro impetuoso - con stravaganza” (Ungestüm, ausschweifend) stellt das „Motiv der verborgenen, ungeheuren Kräfte” dar, das sich aus einem Trillerwirbel in der tiefsten Bassregion des Klaviers losreißt und in wilder Bewegung nach oben stürmt.
Nach einer Generalpause schließt sich „Languido - accarezzevole” (Matt, liebkosend) an, das „Frage und Erleuchtungsmotiv”, dessen charakteristische aufsteigende und zurückfallende kleine Terz den Baustein bildet für das nun folgende „Presto con allegrezza” (mit Munterkeit), das Motiv der „Erweckung zum Leben”, das zum ersten Themenkomplex, dem Hauptsatz der Sonate weiterentwickelt wird, der noch zwei weitere prägnante Motive einführt: „Imperioso” (Gebieterisch), ein heftiger, weit gespannter, nach unten gerichteter 3-Tonschritt, Symbol der zurückwerfenden Kräfte, und „Quasi trombe”, ein triumphierendes, orchestrales Durchbruchsmotiv, das zum „Meno vivo - accarezzevole”, dem Motiv des „erzählenden Schöpfergeistes” überleitet, einem langsamen, kontemplativen Abschnitt, der das 2.Thema, den Seitensatz repräsentiert. Ein kurzes „Allegro fantastico”, das „Kühnheitsmotiv”, rundet als Schlussgruppe der Exposition die Reihe der aufgestellten Motive ab. Es führt mit seinem vorwärtsdrängenden Impetus zurück zum Trillerwirbel der Introduktion. Die Wiederholung des „Languido”-Teiles (einen Ganzton höher und ohne Dämpferpedal) eröffnet sodann die Durchführung. Diese verarbeitet alle oben aufgeführten Motive, verändert ihre Gestalt und führt sie zu wechselnden Kontrastierungen. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung wird das 2. Thema mit grandioser Gewalt gesteigert; es bricht unvermittelt im fff ab und zwingt die Reprise herbei, als Wiederholung der Exposition in der Reihenfolge der aufgestellten Motive, jedoch transponiert in die Unterquint. Auf die Reprise folgt in einem heftigen Ausbruch („Vertiginoso - con furia” taumelnd, mit Wut) die letzte und höchste Stufe der Entwicklung, in der das „Frage- und Erleuchtungsmotiv” der Einleitung zur strahlenden Apotheose umgeformt wird, in leuchtender Orchestrierung („Con luminosita”) und dreifachem Forte („Estatico”). Danach bündeln sich die Kräfte ein letztes Mal im „Kühnheitsmotiv” (Allegro fantastico), das in den nunmehr alles auslöschenden Sturm der Einleitungstakte mündet: Anfang und Ende verschmelzen miteinander, die Musik bricht dort ab, wo sie sich selbst vollendet.
Übergeordnet lassen sich in dieser Sonate drei große Formteile erkennen:
- Die Vorbereitungsphase
(Einleitung, „Fragemotiv”- Languido)
- Die Konflikt- und Durchsetzungsphase
(Sonatenhauptsatz)
- Die Erfüllungsphase
(Coda, die das „Fragemotiv” zum
„Erleuchungsmotiv” - estatico - transformiert.)
Languido und estatico bilden die beiden Entwicklungspole, die das vielfältige thematische Material umklammern und damit für eine außerordentliche Geschlossenheit der Sonate sorgen.
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