Vincent d'Indy (1851 - 1931)
Sonate op.63 (en mi) pour piano (1907) | |||
I. | Modéré | 12:43 | |
II. | Très animé | 05:24 | |
III. | Modéré | 14:19 | |
Sonate op.63 Als Gründer und Leiter der „Schola Cantorum” Paris, die sich der Wiederbelebung und Pflege der alten Musik verschrieben hatte, genoss d'Indy in Frankreich hohes Ansehen, als Komponist versuchte er vor allem die avantgardistischen Tendenzen seiner Zeit (Wagner, Franck) mit der Satzkunst der alten Meister zu verbinden. Die große Klaviersonate op.63 nimmt im Schaffen d'Indys einen bedeutenden Platz ein und markiert den Übergang der französischen Spätromantik zur Moderne des 20. Jahrhundert. Ihre formale Anlage bezieht sich in der thematischen Verklammerung der Sätze auf das Vorbild Liszts (h-Moll-Sonate) wie auch auf die von Beethoven überlieferte Sonatentradition. Als unmittelbarer Anknüpfungspunkt seien hier die vielfach polyphone Satzanlage und die Einarbeitung von Variationsfolgen als Entwicklungs- und Durchführungsprinzip genannt. Die komplizierte Gesamtstruktur des Werkes und seine expansive Anlage werden durch plastische Themencharakterisierungen zusammengehalten, die leitmotivartig dem Verlaufe des ganzen Stückes zugrunde gelegt werden. Andererseits finden sich Stilelemente alter Musik wie modale und polyphone Satzstrukturen, die von d'Indys tiefer Kenntnis der Musik der Renaissance und des Barock zeugen. Das Hauptthema der Sonate stellt sich zu Beginn des 1. Satzes in kraftvoller Pose vor und enthält bereits als eine Art „Cantus firmus” die Tonfolge des zentralen, langsamen Variationsthemas, mit dem die sich anschließende Folge von vier ausgedehnten Variationen eröffnet wird. Das Sonatenprinzip, das traditionellerweise auf dem Dualismus zweier kontrastierender Themengedanken basiert, bleibt hier offen und erhält seine Vervollständigung erst mit dem Hauptthema des dritten Satzes, der beide Themen am Schluß zur Synthese bringt. Der 2. Satz birgt Elemente von Scherzo und Trio mit verschiedenen miteinander kontrastierenden Mittelteilen. Anstelle eines langsamen Satzes stehen langsame Abschnitte der Einleitung des dritten Satzes sowie das Variationsthema und die langsameren Variationen. Der 3. Satz, eine ausgedehnte, in sich geschlossene Sonatenhauptsatzform, wird wiederum mit den monumentalen Eröffnungstakten des ersten Satzes eingeleitet, die wie ein Motto die beiden Ecksätze zusammenhalten. Eine groß angelegte Coda vereint die beiden Hauptthemenkomplexe von erstem und drittem Satz und führt sie zu grandioser Schlusssteigerung. Die musikalischen Mittel in dieser Sonate faszinieren vor allem durch die Vielfalt der formalen und satztechnischen Aspekte, die dem musikalischen Ausdruck stets untergeordnet bleiben und niemals zum reinen Selbstzweck werden. Empfindungsreichtum und melodische Einfallskraft dieser Musik korrespondieren mit der Ausgewogenheit der kompositorischen Mittel, die spektakulären Höhepunkten und extremen Ausdrucksbereichen keinen Raum geben. Dem romantischen Zeitgeist entsprechend befindet sich d'Indys Musik in der Nachfolge seines Lehrers César Franck, doch auch Einflüsse Saint-Saëns' sind erkennbar sowie die von Fauré und Debussy. Demgegenüber steht eine strenge, bisweilen archaisierend wirkende, polyphone und auf chromatische Stimmfortschreitungen fixierte Satzstruktur, die aber immer wieder durch kühne harmonische Mittel und eine abwechslungsreiche Rhythmik aufgelockert wird. Diese Sonate kennzeichnet einen wichtigen musikgeschichtlichen Aspekt der französischen Musik und steht neben der ebenfalls hochbedeutenden Klaviersonate von Paul Dukas beispielhaft für die Weiterentwicklung der Sonatenform zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihr musikalischer Ernst und die Differenziertheit ihrer kompositorischen Mittel machen sie zu einem absolut hörenswerten Stück, dessen Feinheiten sich allerdings erst bei intensiverer Beschäftigung und wiederholtem Hören erschließen. Thomas Lefeldt 11/2000 |